Sein oder nicht sein. Heute geht es mal ins Theater

Theater, Theater, der Vorhang geht auf.

Berlin, Schaubühne, Hamlet, Lars Eidinger. Die Vorfreude ist riesig, die Erwartungen noch größer. Doch wie dann ab 19:30 Uhr an einem warmen, spätsommerlichen Septemberabend der gesamte Theaterraum gerockt wird, ist – obwohl der Ostermeier-Hamlet schon seit 15 Jahren läuft – »new level shit«. In jeder Sekunde anders, überraschend, kreativ, unerwartet, mitreißend. Eidinger ist hyperaktiv, eine Billardkugel, die von einer Ecke zur anderen über die Bühne schießt, zwischendurch über den (Bühnen-)Rand in den Saal knallt. Eidinger ist totale Kontemplation. Eidinger neckt, lacht, weint, springt, wirbelt, stolpert, fällt, lässt sich fallen. Eidinger ist da, überall, immer – ob zu sehen oder nicht. Wer wissen will, was Präsenz bedeutet, kann hierher in die Schaubühne kommen, um die tiefste Bedeutung des Wortes zu studieren. 

Parallel zum Kleidungswechsel hinter oder direkt auf der Bühne, plustert er den Abend auf, macht ihn nackig, lässt gleich einem Blasebalg Luft rein und raus, saugt ihn auf, spuckt ihn wieder aus, genauso wie das Wasser, das permanent aus Schläuchen und Wasserflaschen spritzt, genauso wie die feuchte, dunkle Erde, mit der der Bühnenboden bedeckt ist. Und wenn er sich in selbige kerzengerade mit dem Gesicht plumpsen lässt, um reglos in ihr liegen zu bleiben, stellt man sich die bange Frage, wie der Mann in diesen endlos erscheinenden Minuten eigentlich Luft bekommt.

Eidinger ist ein Naturtalent, ein fast schon einsamer Grenzgänger mit dem gottgegebenen Talent, Spontanität als kritisches und gleichzeitig verbindendes Element ... einzusetzen.

Seit Jahr(zehnten) ist es geradezu Inszenierungs-wichtig geworden, dass sich Schauspielerinnen und Schauspieler unbedingt ausziehen müssen, dass sie verwirrt über die Bühnenbretter hüpfen, sich grotesk verrenken, kurz: dass sie in der ein oder anderen Weise sich expressiv zu gebären haben, um zu überzeugen. Viel zu oft wirkt das wie ein Muss. Und kommt genauso rüber. Eidinger dagegen ist ein Naturtalent, ein fast schon einsamer Grenzgänger mit dem gottgegebenen Talent, Spontanität als kritisches und gleichzeitig verbindendes Element zwischen sich und seinen Mitspielern, zwischen sich und dem Publikum einzusetzen. Wer ihn nicht mag, wird hier ein trotziges Kind vorfinden, dass nach Grenzen giert, sie fast schon verzweifelt übertritt, weil es keine findet. Wer sich von ihm phaszinieren lässt, erliegt seinem Können, zwischen Schauspieler und Mensch zu oszillieren, dabei in jeder Sekunde die jeweilige Rolle in ganzer Tiefe auszufüllen – angezogen und nackt, normal und mit Tourette.

Angesichts der langen Zeit, die Eidinger den Hamlet in der Schaubühne gibt, erwartet man Routine. Das Gegenteil ist der Fall. Bei manchen Szenen zweifelt man, ob das, was auf der Bühne gerade gesprochen wird, zum Repertoire gehört oder ob die Szene aus einer Eingebung des Protagonisten, seiner intrinsisch motivierten Lust zu verwirren, seiner Gabe unvermittelt zu reagieren, entspringt. London Eye? Gerade der wie beiläufig eingeflochtene Diskurs über die britische Hauptstadt lässt schmunzeln und die – letztlich unwichtige – Frage offen, ob sich das im Klammergriff von Eidinger extrem entspannte Ensemble gerade einen Scherz erlaubt. Nichts fühlt sich danach an, dass die Schauspieler sich bereits dutzende Male durch die Erde auf der Bühne gegraben, den Bühnenboden im Laufe des Stücks mit sämtlichen Requisiten übersät haben, was am Ende zu der so beiläufig wie lakonischen Frage führt: »Kann hier mal jemand sauber machen?«

Mit dieser Spontanität als Rüstzeug, gibt Eidinger immer wieder seinem Drang nach, das Publikum einzubeziehen, mit ihm zu kommunizieren, es – mit teils durchaus abfälliger Überheblichkeit – zu befragen, einen Mobiltelefonnutzer zurechtzuweisen, um in der nächsten Sekunde wieder da anzuknüpfen, wo er die Handlung selbst unterbrochen hat. Das kann er gut. Wer Reiner Holzemers Eidinger-Dokumentation »Sein oder nicht sein« gesehen hat (große Empfehlung!), wird diese Fähigkeit, sich binnen Millisekunden aus einer Szene herauszuziehen um im nächsten Moment wieder darin einzutauchen, wiedererkennen. Sie gehört sicherlich zum Können eines jeden Schauspielers, doch Eidinger nutzt sie als Stilmittel, kokettiert damit und lässt einen Einblick in seine stets hundertprozentige Konzentration zu, mag der Beschuss auch dazu dienen, dieselbe Fokussierung vom gesamten Theaterraum einzufordern. Ein wenig wie eine Diva, die sich davor fürchtet, Aufmerksamkeit zu verlieren. Ein wenig wie ein Wal, der für einen Moment in das Leben über der Wasseroberfläche auftaucht, einmal tief bläst, um sodann wieder in seine Welt einzutauchen. Und genau wie bei diesem Naturschauspiel, phasziniert uns als Zuschauer auch hier dieses Spektakel in seiner Seltenheit, in seiner Übermacht.

Antizipation gelingt bei Eidinger nicht

Mit derselben Spontanität, baut er Nähe auf, stiftet Verwirrung, schürt Aufmerksamkeit. Was passiert als nächstes? Antizipation gelingt bei Eidinger nicht. Der gewünschte Effekt, wenn geöffnete Wasserflaschen gleich Bomben durch den Theaterraum fliegen, kann nur gelingen, wenn er von Intuition geprägt und auf die Weise etwas Spielerisches erhält. Hat das halbe Publikum gerade noch durchaus ängstlich die Köpfe eingezogen, bringt seine halb sorgenvolle, halb amüsante Frage aus dem Off: »Wurde jemand getroffen?« wieder die Konnexität zusammen, mit der er dem Abend fest in seinen Händen hält. Eidinger ist in den zweieinhalb Stunden auf der Bühne genauso präsent wie im gesamten Saal. Wenn er die Welt darüber hinaus in diesen Momenten auch noch mit integrieren würde, wäre das fast schon keine Überraschung mehr.

Ostermeiers Hamlet ist Eidinger. Eidinger ist Hamlet. Ganz und gar. Es ist sein Kampf, etwas, was er in sich zu tragen scheint, durchdrungen von seinen aktuellen Gedanken von Sein oder Nichtsein, seinem Blick auf die Fragen, mit denen sich eben auch Shakespeare auseinandergesetzt hat und die niemals ihre Aktualität verlieren. So gelingt die nicht gerade offensichtliche Verbindung zum englischen Dichter, der im ersten Moment sicherlich etwas verstört wäre, sähe er die kraftvolle, chaotische, eigenwillige Inszenierung.

Doch Eidinger ist nie nur Schauspieler, sondern auch als Mensch anwesend. Daher ist Ostermeiers Hamlet auch Eidingers Selbst-Inszenierung. Und wenn er die dann an sich reißt, in seiner Eitelkeit, in seiner Liebe zu seinem Beruf, in seiner Sucht nach Anerkennung, dann ist das genau das Quäntchen mehr, als Theater ohne Eidinger.

Theater kann man überall sehen. Hamlet, kämpfend oder das (sein) Leid ertragend, nur hier in der Schaubühne.  

Trailer der Schaubühne Berlin zum Hamlet
https://youtu.be/WvW4sXDBEwI


 

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Warum ich bisweilen gender’ *

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